24.II.1916 “Wenn etwas mit mir los ist, wird es Euch mitgeteilt”

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Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 24. II. 1916

 

Liebe Eltern!                                                                                                             24. 2. 16

Ich habe nicht viel Neues zu erzählen, da Ihr durch die Tagesberichte über die einzigartigen Erfolge, die im Nordosten Verduns errungen sind, genügend unterrichtet seid. Bald, vielleicht schon morgen, kommt unser Korps dran. Den ganzen Tag starren wir auf die Generalstabskarte und verfolgen die stets fortschreitenden Erfolge. Es ist recht schön, mit dem Regimentsstab zusammenzuliegen. Wir bekommen nicht nur ab und zu eine Korbflasche Wein und Äpfel, sondern erfahren immer die neuesten Neuigkeiten, die das Regiment von der Division, diese vom Korps und diese von den Nachbarkorps bekommt. Leutnant Meineke, Husar, Führer der großen Bagage, ist oft bei uns und spielt mit uns Doppelkopf. Der treffliche Regiments-Adjutant Oberleutnant Meyer ist so liebenswürdig und kommt rüber, um uns gute Nachrichten zu bringen, und endlich der Ordonanzoffizier Leutnant Wendelstadt, der früher beim I. Bataillon die Bausachen unter sich hatte und seinerzeit von mir vertreten wurde. Ununterbrochen hört man Kanonendonner. Das Wetter ist leider wenig sichtig. Leutnant Ladenburg ist als Beobachtungsoffizier zu der Brigade Smalian kommandiert. So bin ich jetzt mit Oberleutnant Alt allein.

Ich habe dem II. und III. Bataillon Eure Adresse angegeben. Wenn etwas mit mir los ist, wird es Euch mitgeteilt. Oder wenn Ihr in begründeter Sorge seid, könnt Ihr Euch an das II., dann an das III. Bataillon wenden.

Ich habe ein sehr schönes Bild von unserm hohen Patenkind nach Hause geschickt. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr es rahmen lassen wolltet.

W.

23.II.1916 “Hoffentlich kommen wir bald dran”

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Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 23. II. 1916

 

Liebe Eltern!                                                                                                                                                                          Bellevue, 23. 2. 16

Soeben haben wir die herrlichen Bonbons verzehrt. Vielen Dank! Und öfters so etwas. Herr Raberg ist zur Rekrutenausbildung zum Depot des V. Reservekorps nach Longayon kommandiert. Die Angriffe im Nordosten Verduns sind weiter fortgeschritten. Hoffentlich kommen wir bald dran. Haumont ist genommen. Ich sammle jetzt die Heeresberichte, in denen unsere Gegend erwähnt ist.

Viele Grüße,

W.

Wetter schlecht. Es schneit. Ich schicke Briefschaften und ähnliches an Euch ab. Ich bitte um eine Kartentasche. Ich brauche notwendig Lektüre! Bitte Strümpfe, 1 Hemd, 1 Unterhose.

22.II.1916 “3000 Gefangene sollen gemacht sein”

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Wolfgang Husserl an M. Husserl, 22. II. 1916

Liebe Mama!                                                                                                                                                 22. 2. 1916

Die Briefsperre scheint aufgehoben zu sein. Da ich jeden Brief von Dir beantwortet habe, werdet Ihr eine ganze Serie von mir bekommen. Beantworte auch jetzt sofort Deinen lieben Brief vom 19. des Monats. Wir sind vorläufig noch hier. Nach der gestrigen Artillerievorbereitung haben die 3 nördlichen Armeekorps angegriffen und sind bis zu 4 km Tiefe vorgedrungen ohne viel Verluste. 3000 Gefangene sollen gemacht sein. Die Franzosen scheinen völlig überrascht zu sein. Sie glaubten wohl den Aussagen der Überläufer nicht und hielten das Ganze für einen Bluff. Der Angriff erstreckt sich vom Maasübergang bis zur Nationalstraße, d.h. bis Etain. Dort ist der Drehpunkt. Diese Strecke war früher der Abschnitt des V. Reservekorps, ca. 40 km. Ihr könnt Euch denken, was es für eine Leistung ist, mit diesen schwachen Kräften 1 Jahr lang 40 km Frontlänge zu halten. Uns liegen meist Territorialtruppen gegenüber. Das Wetter ist nicht schlecht. Leider aber die Sicht unklar.

W.

21.II.1916 “Heute hat die Beschießung der Forts und Stellungen begonnen”

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Wolfgang Husserl an M. Husserl, 21. II. 1916

 

Liebe Mama!                                                                                                                                                                 21. 2. 16

Heute erhielt ich deinen lieben Brief vom 17. des Monats. Ich freute mich sehr. Schicke mir doch häufiger etwas. Seit gestern ist herrliches klares, kaltes Wetter. Heute hat die Beschießung der Forts und Stellungen begonnen. Die Côte ist in Rauch gehüllt. Wir können von hier aus das Schießen der schweren Artillerie sehr schön beobachten. Acht Fesselballons stehen am Himmel, um das Feuer zu leiten. Ein rasendes Donnern geht durch die Luft, und die Erde zittert. In etwa 3 Tagen wird unsere Division als letzte zum Angriff schreiten. – Gestern war ich drüben beim I. Bataillon, das bei Baroncourt liegt, 7 km von uns entfernt. Ich musste lachen, als ich zwei kleine Kinder auf der Straße sah. Es gibt dort nämlich noch Zivilbevölkerung. Ich besuchte Herrn Hauptmann Mattersdorf und den lieben, trefflichen Komanitzik (Adjutant). Dann war ich bei der 1. Kompanie, die mich sehr herzlich aufnahm. Die Herren lassen Euch vielmals grüßen. Mit Herrn Oberstleutnant habe ich wegen Gerhart noch nicht gesprochen. Es ist jetzt ein schlechter Zeitpunkt. Eben ist Exzellenz beim Regiment. Wir wollen hören, was es Neues bringt.

W.

Seit einiger Zeit dürfen wir als Absender nur noch Regiment und Kompanie angeben. Für Euch bleibt die Adresse dieselbe.

19.II.1916 “Ich fühl’ mich sehr wohl und kräftig”

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Wolfgang Husserl an M. Husserl, 19. II. 1916

 

Liebe Mama!                                                                                                                          19.2.1916. Ferme zur schönen Aussicht.

Ich freue mich sehr, dass ich regelmäßige Nachrichten von zu Hause bekomme, zuletzt Dein Schreiben vom 14. II. … Das schlechte Wetter, das recht beharrlich ist, ist ein großes Unglück. Denn jetzt haben die Franzosen längst Wind von dem, was man hier vorhat, bekommen. In den letzten Tagen sind allein 5 Mann von verschiedenen Regimentern, teils Polen, teils Elsässer, übergelaufen. Die Franzosen schießen daher auch recht lebhaft in die Ortsunterkünfte. Es ist ein unabsehbarer Schaden durch diese unliebsame Verzögerung angerichtet. Cadorna hatte mit seinen Berichten vom ungünstigen Wetter durchaus recht. Sonst ist das Leben für uns ja sehr schön, ein wenig Dienst (Appells, Exerzieren, Unterricht), sonst gesunde Langeweile, essen, schlafen, lesen. Ich fühl’ mich sehr wohl und kräftig. Lese jetzt Thukydides’ II. Buch.

Viele Grüße,

Wolfgang

15.II.1916 “Schade, dass Papa mir so selten schreibt”

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Wolfgang Husserl an M. Husserl, 15. II. 1916

 

Liebe Mama!                                                                                                                                 15.2.16

Wir sind nun zum II. Bataillon gekommen. Es gefällt mir wenig, da wir so den Angriff aus etwas weiterer Entfernung als Brigadereserve mitmachen werden. Na, ich denke mit einem Stoß ist es nicht abgetan. Das II. Bataillon ist, was Offiziere und den Kommandeur anbetrifft, das schlechteste. Wir werden uns da nie wohl fühlen. Herr Rittmeister von Massew sieht aus wie ein echter Junker und ist in seinem Benehmen auch recht junkerlich und hochnäsig. Mit seiner schnarrenden Stimme und seinem kantigen Auftreten erscheint er mir als eine Karikatur. Er trinkt sehr viel. Die Bataillonsübung, die er heute Vormittag abhielt, war recht komisch, da er sie so unkriegsmäßig wie möglich gestaltete und jede Gelegenheit benützte, die Kompanieführer anzupfeifen. Der genaue Angriffsbefehl der Division ist schon da, Zeit noch unbekannt. Sehr nett sind die Übungen in der Kompanie, die Herr Oberleutnant Alt abhielt. Nicht schematisches Exerzieren, sondern kunstvoll ausgedachte kurze Übungen, die Wert haben. Zum Beispiel Durchreiten eines Hindernisses, einer dichten Hecke, einer Gartenmauer usw. Zu schade, dass ich aus allen netten Beziehungen rausgerissen bin!

Dein Brief vom 11. des Monats erhalten. Hoffentlich geht der Umzug gut vonstatten. Wenn die Postsperre vorbei, werdet Ihr einen großen Haufen Briefe von mir bekommen. Ich schreibe in dieser Zeit sehr viel. Das Wetter ist leider noch immer ungünstig. Heute war ein mächtiger Sturm.

W.

Es ist schön, dass ich so viel Briefe von zu Hause bekomme. Schade, dass Papa mir so selten schreibt. Manchmal bin ich doch etwas traurig und brauche Aufmunterung, im Allgemeinen aber stets guter Dinge. Horaz ist mein steter Genosse. Et fractus illabatur orbis impavidum ferient ruinae, danach will ich handeln.

 

14.II.1916 “Die Franzosen haben von unseren Absichten keine Ahnung”

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Wolfgang Husserl an Elli Husserl, 14. II. 1916

 

Liebe Elli!                                                                                                                                                                    „Zur schönen Aussicht“, den 14. 2. 16

Wir liegen hier nun schon einige Tage, entwickeln Schlachtenpläne und warten sehnsüchtig auf besseres Wetter, damit die Artillerie sich endlich einschießen kann. Das Schneewetter hat sich in Dreck und Regenwetter verwandelt. Wir exerzieren ein wenig, üben lautlos ausschwärmen und andere für einen Sturmangriff nützliche Sachen. Wir haben schon die Skizze der feindlichen Stellung, die unsere Division nehmen soll, bekommen. Es ist ein festungsartig aufgebautes Dorf. Den Namen kann ich später schreiben. Die Franzosen haben von unseren Absichten keine Ahnung. In Saarbrücken erzählte ich, auf welche Art uns ständig Nachrichten über die Verhältnisse beim Gegner zugehen. Sie beurlauben weiter. Ein Überläufer, oder vielmehr ein Verräter, der unsere Stellung für die seinige gehalten hatte, machte in demselben Sinne Aussagen. Die Ablösung unserer Division ging ganz lautlos vonstatten. Die beiden Regimenter sind jetzt in Ortschaften 10-15 km hinter der Front versammelt. Das System des Angriffs ist in einem ausnahmsweise vernünftigen Divisionsbefehl uns schon bekannt. Wir sind jetzt damit beschäftigt, die Ausrüstung kriegsmäßig und zweckentsprechend zu gestalten. Die Helmspitze wird abgeschraubt. Das Sturmgepäck: Mantel und Zeltbahn werden herzförmig um das Kochgeschirr gelegt und am Brotbeutelband rucksackartig getragen. Dass ich alle diese Sachen besitze, ist sehr wertvoll. Leider fehlt mir ein Revolver und eine Kartentasche. Am Koppel trage ich Fernglas, Brotbeutel, Feldflasche, Gasmaske, Seitengewehr und Dolch. Die Schuppenkette am Helm habe ich mit grünem Tuch umwickeln lassen. Die Sache ist glänzend organisiert. Wenn es nur erst mal losginge! Das Warten ist so schrecklich. Hauptmann Henkel führt das Bataillon und ruft die Kompanieführer jeden Augenblick zu einer Besprechung zu sich, was diesen gar nicht gefällt. Major von Langsdorff ist bis zum 24. des Monats beurlaubt. Leider wird die 15. Kompanie wieder einem anderen Bataillon verpumpt, wahrscheinlich dem II. Wir bringen die viele freie Zeit damit hin, die Post der Mannschaft zu lesen und zensieren, Karten zu spielen und zu lesen. Ich las eine Novelle von Wilbrandt, von Kleist Novellen und einiges andere. Jetzt ist mir die Lektüre ausgegangen. Ich bekomme von zu Hause ja noch weder leibliche noch geistige Nahrung, nicht einmal mein Rasierzeug wird mir geschickt. Die Verpflegung wird sehr knapp werden und sich wahrscheinlich nur auf mitgeführte eiserne Portionen beschränken.

Dein Brief vom 11.2. freute mich sehr, zumal ich daraus erfuhr, dass Du jetzt mehr Ruhe hast. Ich lese jetzt viel in der Zeitschrift „Deutsche Politik“ von Rohrbach. Deinen Artikel in der Göttinger Zeitung überflog ich, nicht ahnend, sein Verfasser seist Du. Einen schönen Gruß an Nina. Was macht sie jetzt? Auch Grüße an Herrn Carathéodory, dessen Thukydides noch bei mir ist. Mamas Brief vom 8. 2. auch erhalten. Viele Grüße an Gerhart. Gott sei Dank, dass es ihm gut geht. Die Zeit in Freiburg verspricht ja alles Gute, liegt aber leider für mich in weitester Ferne.

W.

 

10.II.1916 “Schicke mir bitte Heilmittel”

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Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 10. II. 1916

 

Liebe Eltern!                                                                                                                                                               10.2.16

Es kommt mir so vor, als wären wir vor ein paar Tagen ins Feld gekommen und ständen in Erwartung der ersten Kriegserlebnisse und Eindrücke. Der Wust und das Papier des Stellungskrieges scheint in einer Versenkung verschwunden zu sein. Die Befehle werden kurz und deutlich. Wir liegen mit dem Regimentsstab und einem Teile einer anderen Kompanie in einer ferme, die an der großen Heeresstraße liegt. Die Stimmung und das Milieu sieht fast nach Bewegungskrieg aus. Die bis auf den Boden mit Leuten vollgestopften Gebäulichkeiten, die Feldküchen und Packwagen, die im Hofe stehen, die unzähligen Kolonnen, die einherrasseln, die dürftige Unterbringung, das Essen aus der Feldküche und Kochgeschirrdeckeln, das Frieren bei Nacht, erinnert mich an die erste Woche im schönen Belgien. Tornister und Koppel, Feldflasche und Brotbeutel, spielt wieder eine Rolle. Doch die Reste des eingelebten Stellungskrieges machen sich auch bemerkbar, als da sind Strohsäcke, elektrisches Licht, Tischtücher, Geschirr, Pantoffeln und Bettbezüge. Über uns singen und tanzen die Leute und sind trotz ihrer kümmerlichen Unterbringung vergnügt. Nun will ich aber statt Stimmung zu malen, Tatsachen berichten. Gestern schneite es tüchtig. Am Nachmittag holte ich mir, als ich einem Herrn des neuen Regiments wichtige Arbeiten übergab, im Dienste vom I. Bataillon das letzte Mal nasse Füße auf dem Riegel. Gegen Abend fror es tüchtig. Wir hatten bei sternenklarer Nacht einen herrlichen Marsch. Ich werde die Ausreise niemals vergessen, es war so, als wenn ein Regiment eine Garnison verlässt und ins Feld rückt. Wir drei Zugführer trugen den gepackten Affen, um uns wieder dran zu gewöhnen. Nach 3 Stunden trafen wir, von den Quartiermachern empfangen, hier ein. Im Allgemeinen sollen die Leute Ruhe haben und ihre Sachen in Stand setzen. Wir haben täglich nur 50 Mann in zwei Schichten zur Arbeit bei der Artillerie zu stellen. Das erste Mal musste ein Offizier die Leute führen. Ich war dazu bestimmt. Um 6 Uhr morgens marschierte ich ab. Da mir die Gegend hier nicht bekannt ist, war es für mich gleich eine kleine Übung, mich nach der Karte im Gelände zurechtzufinden. Nach 2 Stunden Wegs durch schöne Gegend, die in herrlichem Winterwetter prangte, kam ich an meinem Bestimmungsort an. Es ist eine bewaldete Höhe, die vorzügliche Sicht ins feindliche Gelände bietet. Ein Beobachtungsstand neben dem andern ist dort. Alle sind sehr robust mit Beton gebaut und gefielen mir sehr gut. Wir hatten einen Laufgraben zum Gefechtsstand des „Artilleriekommandeur rechts“ anzulegen. Um 2 Uhr war ich wieder daheim. Oberleutnant Alt, der immer sehr nett zu mir ist, meist ironisch und humorvoll (er kann einen furchtbar veräppeln), schenkte mir gleich einen Schnaps ein, reichte mir eine Zigarre und ein Stück Kuchen, das er mir aufgehoben hatte. Wir sollen uns stets marschbereit halten. Schicke mir bitte Heilmittel.

W.

P.S.: Bitte von dem, was Ihr vielleicht meinen Briefen entnehmen zu können glaubt, zu niemand zu sprechen. Wie ich korrekt sein wollte, so schrieb ich Euch nur noch Postkarten: „Mir geht es gut“, „Alles beim Alten“. Diskretion Ehrensache!

Ich lese viel Schiller und Goethe und daneben einen antiken Klassiker. Ich freue mich, den innigen Zusammenhang zwischen den beiden zu sehen. Ich suche das Altertum so zu erblicken, wie es Schiller und Goethe sahen, das verklärt ist durch die Erhebung und den edlen Genuss, den es den Jahrhunderten gegeben hat.

9.II.1916 “Wir wissen ja gar nicht, was man mit uns vorhat”

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Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 9. II. 1916

 Aufschrift: Leutnant d. Res. H. R. I. R. 19.

Geheim! Niemand zeigen!

Liebe Eltern!                                                                                                                                     9. 2. 1916

Heute ist ein Tag von einschneidender Bedeutung für unser Regiment. Wir werden abgelöst. Den Ort, der nun über 1 Jahr der Stammsitz unserer Truppe war, verlassen wir. Der Verband zwischen meiner Kompanie und dem I. Bataillon ist gelöst. Ich bin also wieder Zugführer und leiste heute dem I. Bataillon die letzten Dienste, indem ich den neuen Herren die wichtigsten Arbeiten übergebe. Wir kommen nicht weit weg, hinter den rechten Abschnitt unserer Division in Divisionsreserve. Aus all den gewohnten, heimatlichen Verhältnissen rauszumüssen und von so viel persönlichen Beziehungen zu scheiden, ist hart. Dafür stehen wir aber vor einer ereignisreichen Zukunft. Das Einerlei des Stellungskrieges wird unterbrochen werden. So gern würde ich Euch ausführlicher berichten, ich darf es nicht. Das muss ich vorerst verschieben, da es streng verboten ist, von militärischen Dingen zu schreiben. Wundert Euch bitte nicht, wenn die Post unregelmäßiger kommt. Ich werde viel, aber meist kurz schreiben. Ich brauche jetzt wieder Esssachen, da die Verpflegung wohl unregelmäßiger werden wird. Schickt mir bitte mein Rasierzeug und eine gute Kartentasche.

Kisten und Koffer sind gepackt. In den Straßen herrscht ein mächtiges Leben und Treiben. Die neue Truppe kommt. Wagen werden aufgeladen und abgeladen. Die Spannung, die auf den Gemütern lastet, ist groß. Wir wissen ja gar nicht, was man mit uns vorhat.

Viele Grüße, Wolfgang

Den Inhalt dieses Briefes darf niemand erfahren!

5.II.1916 “Wir leben hier in Erwartung der Dinge, die kommen sollen”

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Wolfgang Husserl an M. Husserl, 5. II. 1916

 

Liebe Mama!                                                                                                                       Etain, den 5. 2. 1916

… Außerordentlich überrascht war ich, als ich von Gerhart eine Karte aus Aachen erhielt mit der Nachricht, er sei garnisionsdienstfähig geschrieben usw. Wenn ich in der Angelegenheit einen Rat geben soll, so bin ich der Ansicht, dass Gerhart unbedingt versuchen muss, zu einem Kursus zu kommen, da er nur dort die Gewähr hat, Offizier zu werden. Ist er dann Leutnant, so kann er immer noch versuchen, zu den 19. versetzt zu werden. … Herr von Gilsa würde ihn ganz hervorragend nett aufnehmen. Befördert würde er auch. Das ginge aber natürlich nicht von heute auf morgen. Wie gesagt, Gerhart würde höchst anständig behandelt werden, da man hier vor Leuten, die von einer brenzligen Stelle der Front, zumal Flandern, kommen, kolossalen Respekt hat. So ging es ja auch mir. Ich würde Gerhart aber raten, wenn ihm nicht Ernstliches fehlt, sich zu beeilen, wieder ins Feld zu kommen. Wir stehen vor dem entscheidendsten Abschnitt des Krieges. Leider darf ich Euch nichts von dem schreiben, was hier sich vorbereitet. Wir leben hier in Erwartung der Dinge, die kommen sollen. Für 7 Tage sind zum Regiment von einem Regiment, das hinten liegt, kommandiert pro Bataillon ein Offizier, pro Kompanie ein Unteroffizier, um unsere Stellung kennenzulernen. Den Offizier, der I/19 zugeteilt ist, habe ich mit den Dingen vertraut zu machen. Ich habe ihn hier sehr gut untergebracht und möglichst für ihn gesorgt, da er ein recht netter Mensch ist. Diente aktiv, als der Krieg ausbrach, in Straßburg und war zugleich an der Universität für Theologie immatrikuliert. … Er kommt daher, wo ich früher war mit seinem Regiment und Korps. –

Habe eben gebadet, was ein großer Genuss ist. Gestern Vormittag war herrliches klares Wetter. Ich war auf dem Riegel und betrachtete durchs Scherenfernrohr das feindliche Vorgelände, mit besonders sehnsüchtigem Blicke die „Côte“, die natürliche Festungsmauer Verduns. Ich beobachtete die Einschläge unserer 21 cm Mörser, die eine Batterie auf der sogenannten Pflaumenbaumhöhe ausgiebig mit Granaten belegte. Die Franzosen schießen öfters nach Etain. Überhaupt haben wir hie und da Verluste. Es ist eben Krieg. Bitte sofort eine Erkennungsmarke zu schicken!

Viele herzliche Grüße,

Wolfgang