Under the influence… // Unter dem Einfluss…

2016-10-schelers-influence-on-patocka

For quite some time now, I have been investigating Max Scheler’s influence on Jan Patočka, especially in Patočka’s Heretical Essays in the History of Philosophy. There, Patočka has a peculiar use of the notion of “force” and also develops his famous idea of the “forces of the night” / “forces of the day”. All these ideas develop without a distinct introduction in the 5th essay and then fully gain theoretical momentum in the 6th essay where Patočka gives his rather unique interpretation of the First World War as the decisive event in the history of the 20th century. In short, Patočka’s ideas of force and the forces of the day/night are tightly connected to his understanding of the First World War. However, the question is: who or what inspired this rather unusual interpretation?

One possible source of inspiration could be Max Scheler whom Patočka read extensively around the time he was writing the Heretical Essays. We find direct traces of this engagement with Scheler in the first chapter of Plato and Europe, structural similarities in concepts in the Heretical Essays and countless other references all throughout Éternité et historicité. However, I recently stumbled upon another rather unknown text which Patočka wrote on occasion of the release of the Czech translation of Scheler’s Die Stellung des Menschen im Kosmos. For this release, Patočka sets out for the rather ambitious task to introduce the Czech audience to Scheler’s thinking in its entirety: “Max Scheler. Versuch einer Gesamtdarstellung”. This text can be found in the big volume Texte, Dokumente, Bibliographie (edited by Ludger Hagedorn and Hans Rainer Sepp) which compiles a lot of interesting materials of Patočka that do not suit for standalone publications.

In the part where Patočka speaks about Scheler’s philosophical engagement in the First World War, it is somewhat surprising to see that he finds appreciating words for Scheler’s infamous war writings. These war writings of Scheler, such as Der Genius des Krieges or Die Ursachen des Deutschenhasses are collected in the Gesammelte Werke, Vol. IV with the title Politisch-pädagogische Schriften. Patočka writes about them the following:

“Zwar kampfeslüstern und zweifellos in die Irre gehend, lassen sie aber doch die Tiefe nicht vermissen und sind voll von Beobachtungen, die auch unter veränderten Vorzeichen Gültigkeit behalten – dazu zählt vor allem das Buch über die Ursachen des Deutschenhasses, das bis heute nichts an Interessantheit verloren hat.” (342-343)

(“Although belligerent and erroneous without doubt, they do not miss depth and are full with observations that remain valid even under different circumstances – this concerns above all the book on the reasons for the hatred on Germans (Die Ursachen des Deutschenhasses) which until today did not lose interestingness.”, transl. by Christian Sternad)

Given this, it is apparent that Scheler figures as one of the rather overlooked sources of inspiration for Patočka. Patočka did not only know Scheler’s thinking very well, he was also familiar with Scheler’s war writings. This is important to mention since Scheler’s Der Genius des Krieges begins with an analysis of the force of war. Here, Scheler fosters the idea that wars are guiding and creative principles of human history, ending with the very provocative claim that peace (and especially Kant’s notion of the eternal peace) is the stagnation of human evolution and development. According to Scheler, human history is a history of wars – they bestow meaning and thereby define the ontological state in which mankind finds itself. This comes very close to what Patočka develops at the end of the 5th essay as a “mythology”, even a “metaphysics of force”, and finally putting all these elements in play in his analysis of the First World War in the 6th essay where the war figures as a “laboratory for releasing reserves of energy accumulated over billions of years”. (124)

In his late seminar Plato and Europe – written around the time of the Heretical Essays –, Patočka explicitly refers to Scheler when he speaks about the current state of mankind. Scheler argues in his speech from 1927 Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs that the current state of mankind was induced by the First World War which figures as the first “total experience of mankind”. Interestingly, also this interpretation revolves around the idea of force. In his interpretation, the First World War is the watershed between an old and a new world-era. Whereas in the old world-era, forces went against each other and manifested in chaotic outbursts with all the violence that this entails, the new world-era will be the age of the adjustment of forces leading towards a continuous composition of force. Also here, Scheler’s and Patočka’s interpretations of the First World War seem to be very close as they both interpret the First World War in terms of force.

Putting all of these pieces together, it is likely that Patočka’s peculiar and unexplained use of “force” in his interpretation of the First World War, might indeed go back to or was at least influenced by Scheler’s war writings, especially Scheler’s most famous writing Der Genius des Krieges.

A more lengthy discussion and textual analysis will be performed in my upcoming article, so make sure to take a look at it when it’s finished!

 

 

Max Scheler - Der Genius des Krieges (1917)
Max Scheler – Der Genius des Krieges (1917)

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit Max Schelers Einfluss auf Jan Patočka, vor allem in dessen Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte. Jan Patočka macht hier an zentraler Stelle von jenem seltsamen Begriff der “Kraft” Gebrauch, welchen er dann zum Gedanken der “Kräfte des Tages” bzw. “Kräfte der Nacht” ausweitet. Er entwickelt diese Ideen ohne dezidierte Einführung oder Erklärung im fünften ketzerischen Essay, welche dann aber im sechsten Essay ihr volles theoretisches Gewicht entfalten. Gerade dort stellt er seine bekannte, jedoch sehr ungewöhnliche Interpretation an, in welcher er den Ersten Weltkrieg als das entscheidende Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts versteht. Damit ist gesagt, dass Patočkas Gedanken zur Kraft und zu den Kräften des Tages / der Nacht sehr eng mit seinem Verständnis des Ersten Weltkrieges verbunden ist. Daher stellt sich die Frage: wodurch oder durch wen wurde diese eher ungewöhnliche Interpretation angestoßen?

Eine mögliche Inspirationsquelle könnte Max Scheler darstellen, welchen Patočka sehr intensiv in der Zeit der Abfassung der Ketzerischen Essays gelesen hat. Hier lassen sich direkte Spuren seiner Beschäftigung mit Scheler im ersten Kapitel von Plato and Europe finden, strukturelle und konzeptuelle Ähnlichkeiten in den Ketzerischen Essays und unzählige Referenzen in Éternité et historicité. Gerade kürzlich bin ich über einen recht unbekannten Text gestolpert, den Patočka anlässlich der tschechischen Übersetzung von Scheler’s Die Stellung des Menschen im Kosmos verfasst hat. Für diese Veröffentlichung hat sich Patočka die äußerst ambitionierte Aufgabe gestellt, für die tschechische Leserschaft Scheler’s Denken in seiner Gänze darzustellen: “Max Scheler. Versuch einer Gesamtdarstellung”. Dieser Text befindet sich in dem Band Texte, Dokumente, Bibliographie (herausgegeben von Ludger Hagedorn und Hans Rainer Sepp) welcher eine Reihe von interessanten Dokumenten beinhaltet, die sich weniger für eine eigenständige Publikation eignen.

In jenem Teil, in welchem Patočka auf Scheler’s philosophisches Engagement im Ersten Weltkrieg zu sprechen kommt, findet er überraschenderweise lobende Worte für Scheler’s berüchtigte Kriegsschriften. Diese Kriegsschriften von Scheler, wie etwa Der Genius des Krieges oder auch Die Ursachen des Deutschenhasses findet sich in Gesammelte Werke, Bd. IV unter dem Titel Politisch-pädagogische Schriften versammelt. Patočka schreibt hier:

“Zwar kampfeslüstern und zweifellos in die Irre gehend, lassen sie aber doch die Tiefe nicht vermissen und sind voll von Beobachtungen, die auch unter veränderten Vorzeichen Gültigkeit behalten – dazu zählt vor allem das Buch über die Ursachen des Deutschenhasses, das bis heute nichts an Interessantheit verloren hat.” (342-343)

Dies legt nahe, dass in Bezug auf den Ersten Weltkrieg Scheler eine der eher übersehenden Inspirationsquellen für Patočka gewesen zu sein scheint. Patočka kannte nicht nur Scheler’s Denken sehr gut, er kannte auch seine Kriegsschriften. Dies ist insofern von Bedeutung als Scheler seinen Genius des Krieges mit einer eingängigen Analyse der Kraft des Krieges beginnt. Scheler vertritt hier die Ansicht, dass der Krieg ein kreatives Prinzip der menschlichen Geschichte darstellt und er versteigt sich in die sehr provokative Annahme, dass der Frieden (und im Speziellen Kant’s Idee des ewigen Friedens) gerade den Stillstand der menschlichen Entwicklung bedeutet. Scheler zufolge ist die Geschichte der Menschheit insofern eine Geschichte der Kriege, welche er als einen Ausbruch der Kraft versteht, welche sich über den Verlauf der Zeit gewissermaßen unterirdisch sammeln. Dies kommt sehr nahe an das heran, was Patočka im fünften ketzerischen Essay als eine Mythologie, ja sogar als eine Metaphysik der Kraft andenkt. All diese Gedanken kommen dann im sechsten Essay zusammen, wenn er den Krieg als ein “Laboratorium, das die in Milliarden von Jahren akkumulierten Energiereserven freisetzt” versteht. (146)

In dem späten Seminar Plato and Europe, welches in der Zeit um die Ketzerischen Essays stattfand, bezieht sich Patočka explizit auf Scheler wenn jener vom gegenwärtigen Zustand der Menschheit spricht. Scheler vertritt in seiner 1927 gehaltenen Rede Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs die Ansicht, dass der gegenwärtige Zustand der Menschheit durch den Ersten Weltkrieg eingeleitet wurde und sogar das “erste Gesamterlebnis der Menschheit” darstelle. Interessanterweise basiert auch diese Interpretation auf jenem Begriff der Kraft. Seiner Interpretation zufolge ist der Erste Weltkrieg der Wendepunkt zwischen einem alten und einem neuen Weltalter. Während sich im alten Weltalter die Kräfte gegeneinander richteten und zuweilen in chaotischen Ausbrüchen zu Tage traten – mit all der damit verbundenen Gewalt –, so ist das neue Weltalter durch den Ausgleich der Kräfte bestimmt, welcher zu einem zunehmenden Abbau der Kräfte führt. Auch hier scheinen sich Schelers und Patočkas Interpretationen des Ersten Weltkriegs sehr ähnlich zu sein, da sie sich beide auf den Ersten Weltkrieg in Hinsicht auf die Kraft beziehen.

Bringt man alle diese Versatzstücke in Verbindung, so scheint es wahrscheinlich, dass Patočkas unübliche und unerklärte Verwendung des Begriffs der “Kraft” in seiner Interpretation des Ersten Weltkriegs auf Scheler Kriegsschriften zurückgeht, vor allem Schelers bekanntesten Text Der Genius des Krieges.

Eine eingängigere Diskussion und textuelle Analyse entwickle ich momentan gerade in Form eines Artikel, den ihr nicht verpassen solltet!

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