10.II.1916 “Schicke mir bitte Heilmittel”

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Wolfgang Husserl an M. und E. Husserl, 10. II. 1916

 

Liebe Eltern!                                                                                                                                                               10.2.16

Es kommt mir so vor, als wären wir vor ein paar Tagen ins Feld gekommen und ständen in Erwartung der ersten Kriegserlebnisse und Eindrücke. Der Wust und das Papier des Stellungskrieges scheint in einer Versenkung verschwunden zu sein. Die Befehle werden kurz und deutlich. Wir liegen mit dem Regimentsstab und einem Teile einer anderen Kompanie in einer ferme, die an der großen Heeresstraße liegt. Die Stimmung und das Milieu sieht fast nach Bewegungskrieg aus. Die bis auf den Boden mit Leuten vollgestopften Gebäulichkeiten, die Feldküchen und Packwagen, die im Hofe stehen, die unzähligen Kolonnen, die einherrasseln, die dürftige Unterbringung, das Essen aus der Feldküche und Kochgeschirrdeckeln, das Frieren bei Nacht, erinnert mich an die erste Woche im schönen Belgien. Tornister und Koppel, Feldflasche und Brotbeutel, spielt wieder eine Rolle. Doch die Reste des eingelebten Stellungskrieges machen sich auch bemerkbar, als da sind Strohsäcke, elektrisches Licht, Tischtücher, Geschirr, Pantoffeln und Bettbezüge. Über uns singen und tanzen die Leute und sind trotz ihrer kümmerlichen Unterbringung vergnügt. Nun will ich aber statt Stimmung zu malen, Tatsachen berichten. Gestern schneite es tüchtig. Am Nachmittag holte ich mir, als ich einem Herrn des neuen Regiments wichtige Arbeiten übergab, im Dienste vom I. Bataillon das letzte Mal nasse Füße auf dem Riegel. Gegen Abend fror es tüchtig. Wir hatten bei sternenklarer Nacht einen herrlichen Marsch. Ich werde die Ausreise niemals vergessen, es war so, als wenn ein Regiment eine Garnison verlässt und ins Feld rückt. Wir drei Zugführer trugen den gepackten Affen, um uns wieder dran zu gewöhnen. Nach 3 Stunden trafen wir, von den Quartiermachern empfangen, hier ein. Im Allgemeinen sollen die Leute Ruhe haben und ihre Sachen in Stand setzen. Wir haben täglich nur 50 Mann in zwei Schichten zur Arbeit bei der Artillerie zu stellen. Das erste Mal musste ein Offizier die Leute führen. Ich war dazu bestimmt. Um 6 Uhr morgens marschierte ich ab. Da mir die Gegend hier nicht bekannt ist, war es für mich gleich eine kleine Übung, mich nach der Karte im Gelände zurechtzufinden. Nach 2 Stunden Wegs durch schöne Gegend, die in herrlichem Winterwetter prangte, kam ich an meinem Bestimmungsort an. Es ist eine bewaldete Höhe, die vorzügliche Sicht ins feindliche Gelände bietet. Ein Beobachtungsstand neben dem andern ist dort. Alle sind sehr robust mit Beton gebaut und gefielen mir sehr gut. Wir hatten einen Laufgraben zum Gefechtsstand des „Artilleriekommandeur rechts“ anzulegen. Um 2 Uhr war ich wieder daheim. Oberleutnant Alt, der immer sehr nett zu mir ist, meist ironisch und humorvoll (er kann einen furchtbar veräppeln), schenkte mir gleich einen Schnaps ein, reichte mir eine Zigarre und ein Stück Kuchen, das er mir aufgehoben hatte. Wir sollen uns stets marschbereit halten. Schicke mir bitte Heilmittel.

W.

P.S.: Bitte von dem, was Ihr vielleicht meinen Briefen entnehmen zu können glaubt, zu niemand zu sprechen. Wie ich korrekt sein wollte, so schrieb ich Euch nur noch Postkarten: „Mir geht es gut“, „Alles beim Alten“. Diskretion Ehrensache!

Ich lese viel Schiller und Goethe und daneben einen antiken Klassiker. Ich freue mich, den innigen Zusammenhang zwischen den beiden zu sehen. Ich suche das Altertum so zu erblicken, wie es Schiller und Goethe sahen, das verklärt ist durch die Erhebung und den edlen Genuss, den es den Jahrhunderten gegeben hat.

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