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217702

(2003) Im Zug der Zeit, Dordrecht, Springer.

Erlebte und gemessene Zeit

Hermann Lübbe

pp. 359-396

In der modernen Zivilisation unterliegen wir wie nie zuvor Zeitnutzungszwängen, und wir machen Erfahrungen der Verknappung von Zeit. Komplementär dazu expandieren Zeitfreiräume, in denen nichts geschähe, wenn es nicht selbstbestimmt geschähe. Oft genug geschieht daher in den Zeiten, die wir zeitfrei verbringen, auch nur sehr wenig, und mehr als Eigenzeitmangel drückt uns mangelhafte Zeitumgangskompetenz. So oder so gewinnt die Zeit an Aufdringlichkeit. Die Erfahrungen des Umgangs mit ihr spezifizieren sich aus — individuell, professionell, nach Schichtenzugehörigkeiten und nach sonstiger Positionalität in der zivilisatorischen Evolution. Die traditionsreiche Moralistik lebensdienlicher Zeitumgangsregeln (zum Beispiel "carpe diem"1) wird fortgebildet, auf die speziellen Erfordernisse des Lebens in der modernen Zivilisation umgestellt, pädagogisiert und verwissenschaftlicht und zu Schulungsund Trainingsprogrammen operationalisiert. Dienstleistungsunternehmen offerieren "Zeitmanagement-Beratung"2. Vollständigkeitshalber schreckt man bei solcher Beratung auch vor Empfehlungen nicht zurück, die angesichts längst alltäglich gewordener Zeitumgangspraxis Banalitäten sind ("Ein Zeitplanbuch sollte in die Jackentasche passen, so daß man es immer bei sich tragen kann."). Andere Auskünfte hingegen, die uns moderne Zeitumgangsberater geben, sind weniger trivial. Für die Auskunft, "daß Zeitmanagement vor allem der Kommunikation dient", gilt das3. Hier fühlt man sich an die Einsicht von Norbert Elias erinnert, daß Pünktlichkeit als Tugendbedingung der temporalen Koordination unserer Handlungen mit den Handlungen entfernter anderer immer wichtiger wird und daß somit die modische Abqualifikation dieser Zeittugend als "repressiv" objektiv den Tatbestand der Ermunterung zu Verhaltensweisen erfüllt, durch die wir uns in der modernen Zivilisation unserer Kommunikationschancen berauben würden4. Der Schadensund Leidensdruck, unter den man heute gerät, wenn man es versäumt, sich zeitsouverän zu machen, muß tatsächlich sehr erheblich sein. Sonst bliebe unverständlich, wieso Zeitumgangsschulen in Zeitungsannoncen glauben mit der Verheißung wirksam werben zu können, man werde "in zwei Tagen" "Streß und Zeitnot vermeiden" lernen und so das‚ganze Leben in den Griff bekommen"5.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-540-38360-4_11

Full citation:

Lübbe, H. (2003). Erlebte und gemessene Zeit, in Im Zug der Zeit, Dordrecht, Springer, pp. 359-396.

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