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Einleitung

Inga Römer

pp. 1-16

"Noch heute mag man mit Augustinus sagen: si nemo a me quaerat, scio, si quaerenti explicare velim, nescio". Unter Berufung auf die berühmte augustinische Ratlosigkeit angesichts der Frage nach der Zeit bekennt Husserl gut 1500 Jahre nach Augustinus, wenn auch in einer Vorlesung und nicht in einer göttlichen Zwiesprache, dass er unter den bereits entwickelten zeittheoretischen Ansätzen keine plausible Erklärung der Zeit zu finden vermag. Die "wissensstolze Neuzeit", so Husserl in selbiger Vorlesung, habe in Hinblick auf die Frage nach der Zeit keine wesentlichen Fortschritte gegenüber den augustinischen Überlegungen erreicht. Diese vernichtende Diagnose über das zeitphilosophische Desiderat der "wissensstolzen Neuzeit" war aber bekanntlich keineswegs Husserls letztes Wort. Zeit wurde vielmehr zu einem der zentralsten und einem der schwierigsten Themen seiner Phänomenologie. Zu noch größerer Prominenz als Husserls Zeitanalysen gelangte gut zwei Jahrzehnte später Heideggers husserlkritischer Versuch, Sein und Zeit zusammenzudenken. Und auch in Heideggers Nachdenken über eine angemessene Formulierung der Seinsfrage sollte das Denken der Zeit sowohl einen zentralen als auch einen besonders problematischen Stellenwert einnehmen. Im Anschluss an Husserl und Heidegger und ihre verschiedenen Auffassungen von Phänomenologie wurden immer wieder Versuche gemacht, die Zeit zu denken, so beispielsweise bei Lévinas, Merleau-Ponty, Sartre, Derrida und Ricœur, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, die in der Tradition phänomenologischen Denkens im Ausgang von Husserl und Heidegger stehen. Aber hat unsere, vielleicht nicht mehr ganz so wissensstolze, so genannte Postmoderne einen Fortschritt gegenüber derjenigen Lage erringen können, die Husserl zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts beklagte, oder müssen auch wir uns dem viel zitierten augustinischen Wort anschließen? In Anlehnung an eine Formulierung von Ricœur lässt sich fragen, ob die Zeit etwas ist, das durch das Denken schlechthin nicht fassbar ist, oder ob sie nur eine besondere Herausforderung an dasselbe darstellt: Geht die Zeit letztlich als Sieger aus dem Kampf mit dem Denken hervor oder scheint sie nur der Sieger zu sein in einem noch offenen und vielleicht unabschließbaren Kampf?

Publication details

DOI: 10.1007/978-90-481-8590-0_1

Full citation:

Römer, I. (2010). Einleitung, in Das zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricoeur, Dordrecht, Springer, pp. 1-16.

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